„Er hat an das Paradies geglaubt“

Paul Gratzik wurde 1935 in Ostpreußen im heutigen Polen geboren und lebt heute in der Uckermark.

Die DDR bemühte sich in den Anfangsjahren besonders um die Bildung von Arbeiterkindern. Gratzik als Sohn eines Landarbeiters bot sich nach Jahren der Arbeit als Tischler, u.a. in der Braunkohle, die Möglichkeit des Studiums. Zuerst lernte er zwischen 1963 und 1966 am Institut für Lehrerbildung in Weimar das Erzieherhandwerk. 1968 studierte er dann am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig und lebte ab 1971 als freier Schriftsteller, der vor allem für das Theater arbeitete. In Teilzeit arbeitete er nebenbei einige Zeit in einem Industriebetrieb in Dresden.

„Er galt unter den Autoren der DDR-Literatur als krasser Außenseiter, da er freiwillig in die „Produktion“ zurückkehrte und – in einer sehr eigenwilligen, vom Expressionismus beeinflussten Sprache – den Alltag von Industriearbeitern in der DDR schilderte. Auch vor dem DDR-Tabuthema der ihm aus eigener Anschauung bekannten Jugendwerkhöfe schreckte er nicht zurück, was ihm Schwierigkeiten mit der staatlichen Zensur einbrachte.“ (Wikipedia)

Am Freitag, den 29.Juni lesen wir um 19.30 Uhr im MehrWertKultur, Nobleestr.13a aus seinen Werken Transportpaule (1977) und Kohlenkutte (1982).

»„Transportpaule“ war eine Arbeitergeschichte aus der heutigen DDR. Der Held, jung, intelligent, dabei durchaus einverstanden mit seinem ökonomischen und sozialen Status, Transportarbeiter in einer Dresdner Möbelfabrik und auch noch rühriges Mitglied der SED-Betriebskampfgruppen, strudelte durch allerlei Erlebnisse der Produktionsarbeit, des sinnlichen Genusses, der Künste, der Liebe und des Todes. Vom Ende her ließ sich dieser Transportpaule als ein heutigplebejischer Wilhelm Meister begreifen, sein Weg als DDR-deutsche Bildungsgeschichte, und als Großmeister vom Stuhl trat ein wahrhaftiger SED-Spitzenfunktionär auf, ein witziger, weiser, überlegener Mensch und guter Skatspieler dazu.«
Fritz Rodschinka, die Hauptperson in »Kohlenkutte«, hat biografisch mit Paule viel gemeinsam: Beide um die 30, gelernter Tischler und Transportarbeiter. Allerdings stellte der Rezensent Rolf Schneider 1982 im »Spiegel« fest, dass Kohlenkutte keine Bildungsgeschichte mehr sei, sondern die einer Flucht. »Rodschinka tritt ins Buch ein, da er eben vom sächsischen Frauenzuchthaus Waldheim zurückkehrt; er hat dort eine Kollegin besucht, die im Suff eine russische Krankenschwester überfuhr. Rodschinka beklagt das Fehlen eines Puffs zu Dresden, kohabitiert mit einer nymphomanen Verkäuferin; seine Ehe ist zerrüttet, denn seine Frau schläft mit ihrem Chef, auch aus Karrieregründen. Rodschinka ärgert sich über Prämienschiebereien in seinem Betrieb, säuft im Dresdner Establishment.
Er flieht nach Berlin. Er wird Arbeiter in einer Munitionskistenfabrik. Seine Kollegen sind kaputte Typen; mit ihnen säuft er, mit ihnen gemeinsam, im Suff, randaliert er in einem Ost-Berliner Devisenhotel, schlägt den Hotel-Detektiv zusammen und steht zum Schluß wieder an seiner Maschine. Sein ständiges Utensil ist ein Rumtopf; der soll wohl Geborgenheit und Suff symbolisieren.«

(Rolf Schneider über Paul Gratzik: „Kohlenkutte“, Der Spiegel, 12.07.1982)

Vorher, am Dienstag, den 26.Juni, zeigen wir im Mieterpavillon den Dokumentarfilm „Der Vaterlandsverräter“ (2011). 1806_VaterlandsverräterIn ihm steht die Tätigkeit Paul Gratziks für die
Staatssicherheit im Vordergrund, auf die er sich anfangs einließ, weil „für ihn die DDR ein kostbarer Gesellschaftsentwurf war: Ein Land ohne die Herrschaft der Banken und Unternehmer“, so die Regisseurin des Films. Als in der Mitte der 70er Jahre das innenpolitische Klima repressiver wurde, kamen ihm zunehmend Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeit. 1980 bekannte er sich öffentlich zu seiner Tätigkeit für die Stasi und brach mit ihr.

Diese Veranstaltung findet im Mieterpavillon in der Friedrich-Naumann-Str.7 statt!

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„Er hat an das Paradies geglaubt“

Interview mit Annekatrin Hendel in den Potsdamer Nachrichten, 28.10.2011

Frau Hendel, warum ein Film über den 76-jährigen Schriftsteller und Theaterautor Paul Gratzik, der 20 Jahre für die Staatssicherheit gespitzelt hat und jetzt, allein und fast vergessen, auf einem einsamen Gehöft in der Uckermark lebt?

Ich kenne Paul Gratzik schon seit 1988 und wusste von Anfang an, dass er ein IM war. Mich hat vor allem das Absurde an einer solchen Stasitätigkeit interessiert. So ein Job hat ja einen Bezug zur gesamten Lebensgeschichte. Paul Gratzik als Angehöriger meiner Vätergeneration, vor dem Krieg geboren, ist geprägt von Vaterlosigkeit, da sein Vater schon in den ersten Kriegstagen gefallen ist. Das hat ihn geformt und er wurde zum Antifaschisten. Die ersten Jahre der DDR wird er sicher als wirkliche Aufbaujahre verstanden haben. Er hat an das Paradies geglaubt, das da entstehen sollte. Mich als nach dem Mauerbau Geborene, haben neben den 20 Jahren seiner Stasitätigkeit, auch das Davor, das Danach und das Jetzt beschäftigt. Und die Frage: Was ist der Preis, den man zahlt.

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Ein Gedanke zu „„Er hat an das Paradies geglaubt“

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