Zu Zeiten Kaiser Wilhelms war der typische deutsche Militarist ein schneidiger Offizier, trug eine Pickelhaube und hatte seinen Schnurrbart akkurat aufgezwirbelt. Heute hat der der typische deutsche Militarist den Wehrdienst verweigert, trägt lange Haare oder einen Irokesenschnitt. Der eine ließ ins „Feld der Ehre“ ziehen, während der andere für „Werte“ sterben lässt.
Sascha Lobo, Spiegel-Kolumnist, Hasser von „Lumpenpazifisten“
Man kann sich über einzelne Figuren aufregen, aber die entscheidende Frage reicht weiter: Warum hat der heutige olivgrüne Militarist den Rückhalt der staatstragenden Mittelschicht? Warum reicht diese Unterstützung bis weit ins linke Lager? Eine Antwort liegt u.E. nach darin, dass diese Mittelschicht an eine sog. Zivilgesellschaft glaubt, die der OlivGrüne gegen ruchlose staatsgläubige Diktatoren zu verteidigen behauptet.
Anton Hofreiter testet vegetarische Verpflegung für deutsche Panzerfahrer
Aber was bedeutet der Begriff „Zivilgesellschaft“ eigentlich? Wo kommt er her? Was bedeutet er in Zeiten des Finanzkapitalismus, wie hängt er damit zusammen? Ist es ein Zufall, dass der Begriff im Deutschen zusammen mit der Debatte um den Abbau des Sozialstaates populär wurde? Welche Rolle kommt den privaten Wohltätigkeitsstiftungen zu, die die zivilgesellschaftlichen Initiativen fördern?
Diese Fragen wollen wir in unserer Diskussionsveranstaltung erörtern.
Anetta Kahane, bis 2022 Vorsitzende der Amadeu-Antonio- Stiftung, findet, dass die Parole „Nie wieder Krieg“ purer Luxus und Ausdruck von Menschenfeindlichkeit sei
Dies ist die dritte Veranstaltung, in der wir uns mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der staatlichen Politik angesichts der seit drei Jahren offen virulenten Krise beschäftigen. Wir knüpfen an verschiedene Veranstaltungen an, die wir vor längerer Zeit gemacht haben, so im Mai 2022: „Der Krieg ist die Fortsetzung der Zivilgesellschaft mit anderen Mitteln“…: Das Dilemma des „Community- Kapitalismus“
Damals haben wir das Buch »Community- Kapitalismus« vorgestellt. In dem beschreiben zwei (links) Soziologinnen die zunehmende Bedeutung der identitären Community innerhalb der sozialen und pflegerischen Arbeit. Der Staat zieht sich aus vielen Bereichen seiner Verantwortung zurück und fördert als Ersatz Ehrenamt und identitätsgetriebenes Engagement – schlecht bis gar nicht bezahlt und mit all den Widersprüchen beladen, die eine ungleiche Gesellschaft so mit sich bringt. Von der beschworenen Community haben wir den Bogen zur aktuellen Welle der Kriegsbegeisterung dieser bürgerlicher Schichten gezogen. Diesen Bogen behalten wir jetzt bei, setzen den Schwerpunkt aber mehr auf die Rolle der Stiftungen und ihren immer breiteren politischen Einfluss.
Im April 2018 haben wir das Buch „Ethnizität ohne Gruppen“ von R.Brubaker diskutiert – dieses knüpft an die Identitätsfalle an, in der sich die Linke in den letzten Jahren verfangen hat. Er fragte sich anhand bspw. des Konfliktes im damaligen Jugoslawien, wie (zerstörerische) gesellschaftliche Prozesse in Gang gesetzt werden, in denen sich identitäre „Gruppen“ um individuelle Merkmale herum bilden.
Solche Prozesse sind auch in der Ukraine seit Jahren im Gang; wir verweisen in diesem Zusammenhang auf den Beitrag der ukrainischen Medienwissenschaftlerin Olga Baysha, die in einem Interview feststellte, dass die Eskalation des Konfliktes in dem Moment anfing, als die sozialen Konflikte dort 2013 / 14 nicht als solche artikuliert, sondern von den liberalen Mittelschichten als kulturelle gedeutet wurden. Eine realistische Einschätzung der sozialen Verfassung der Europäischen Union und der Auswirkungen der Integration der Ukraine in die Union gab es nicht, sondern sie wurde als Symbol für „Werte“ überhöht. Opponenten des EU- Beitritts wurden als „Moskowiter“ und kulturell rückständige Barbaren betrachtet. Daraus resultierte die bis heute bestimmende Allianz von liberal- westlichen Kräften und militanten Nationalisten.
Hier liegt auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Die unter den Zaren gegründete und heute erbittert umkämpfte Siedlung Bachmut wurde 1924 nach einem bekannten Revolutionär mit dem Rufnamen „Artjom“ in Artjomowsk umbenannt. Der vermeintlich „ukrainische“ Namen, den Annalena Baerbock als Symbol für soldatischen Heldenmut so gerne im Mund führt, ist der zaristische, während der vermeintlich „russische“ eigentlich der sowjetische ist…Der ukrainisch- sowjetische war Artemiwsk…
Laien’s Dok- Film- Abend Freitag, 21. April 2023 – 20 Uhr Kulturverein „Alles wird schön“ Friedrich-Naumann-Str. 27
„Nicht, wer zuerst zu den Waffen greift, ist der Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.“ (Niccolo Macciavelli)
In deutschen Kinderzimmern: Deutsche Botschafterin in Kiew…
Die Friedensbewegung ist gespalten: Ein Teil lehnt die deutsche Beteiligung an diesem Krieg ab. Ein anderer Teil meint, dass Russland als unmittelbarer „Aggressor“ zuerst besiegt werden müsse (von wem??). Diese Spaltung der Friedensbewegung konnte gelingen, weil in der westlichen Welt der erste Teil der Geschichte, die zum Krieg in der Ukraine führte, nicht zur Kenntnis genommen oder als irrelevant abgetan wird.
Hinzu kommt, dass die Russen- und Russlandfeindschaft nicht erst seit 2022 fester Bestandteil der „Westlichen Werte“ ist.
Insofern war und ist es einfach, eine einseitige und geschichtsverfälschende Erklärung des – nach den sieben Jahren der Kriege im ehemaligen Jugoslawien – zweiten Krieges in Europa seit 1945 zu verankern.
Um Russland die alleinige Verantwortung zuzuschieben, wird das Völkerrecht bemüht. Zu diesem Völkerrecht gehört aber auch u.a. ein Idealbild zwischenstaatlicher Beziehungen mit einem Mindestmaß an Vertrauen und Bereitschaft zur zivilen Konfliktlösung. Auf die Bedrohung Russlands durch eine über dreißig Jahre expandierende NATO und eine militärisch ausgerichtete EU haben russische Regierungen immer wieder hingewiesen. Der platte Spruch: „Zu einem Streit gehören immer zwei!“, trifft also auch hier zu.
In dem Film, den wir zeigen wollen, wird diese jahrzehntelange Vorgeschichte anschaulich und ausführlich dargestellt. Die im Film gezeigten Abläufe der Einmischung durch Geheimdienste, Diplomaten und auch faschistische Killerkommandos, die hier weitgehend unbekannt sind, beweisen die umfangreiche und auch blutige amerikanische Subversion in der Ukraine seit Ende der Sowjetunion. Die von dem international bekannten Regisseur geführten Interviews belegen, wie der Regimewechsel in Kiew 2014 geplant und durchgeführt wurde.
In vielen Branchen laufen zur Zeit tarifliche Streikkampagnen. Die mittlerweile abgeschlossenen Tarifverträge pendeln sich bei Erhöhungen um die 5% plus vom Staat und den Sozialversicherungen subventionierte Einmalzahlungen ein. Gerade für die wenig Verdienenden ist das zu wenig, um die enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten auszugleichen. Einen „Wohlstandsverlust“ nennt das die Politik…
So wenig, wie explodierende Gewinne von Energie- und Rüstungskonzernen „Zufallsgewinne“ sind, ist Verarmung eine „Zufallsverarmung“. Die Politik will die grundsätzliche Krise der neoliberalen Gesellschaft auf dem Rücken der lohnabhängigen Bevölkerung lösen. Daher sehen wir in den letzten Jahren eine zunehmend autoritäre Politik im Namen immer häufigerer Notstände.
Erklärungsbedürftig ist allerdings, dass keine Streikbewegung sichtbar ist, die sich gegen die politischen Rahmenbedingungen richtet, trotz einer hoch politisierten Stimmung, z.B. gegen die autoritäre Corona- Politik der letzten drei Jahre und die deutsche Kriegsbeteiligung inklusive Energieboykott und sonstige Sanktionen gegen Russland.
Warum ist das so? Es hat damit zu tun, dass es der deutschen politischen Klasse gelungen ist, ihre Art der Krisenbewältigung in einen hoch moralisierenden Diskurs zu verpacken, der tiefgreifende Auswirkungen auch innerhalb der Belegschaften hinterlassen hat. Um beizutragen, die Konflikte auf und um die Arbeit wieder mit den Konflikten um die politische Gestaltung der Gesellschaft zusammenzubringen, wollen wir die Auswirkungen der militarisierten Innenpolitik auf die Arbeitswelt diskutieren. Als Hintergrund stellen wir kurz die rechtlichen und technischen Seiten des „Notstandes“ dar. Anschließend skizzieren wir, welche Tabus in den Arbeitsbeziehungen in den letzten Jahren gebrochen wurden und welche Folgen das für die Stimmung unter den Kolleginnen und Kollegen hat(te).
Wir hoffen auf eine Diskussion, wie wir, von unserer Arbeitssituation ausgehend, die beiden Seiten zusammenbringen können: den Widerstand gegen die materielle Verarmung und gegen den politischen Autoritarismus!
Einsatz der Bundeswehr im Innern: „Neues Territorialkommando: Truppenaufmarsch, Inlandseinsätze und Reformvorhaben„ IMI- Analyse Nr. 32/2022 – 23.6.2022)
Wir erleben seit drei Jahren eine „Zeitenwende“. Vieles in diese Zeit ist keine Wende im engeren Sinne, sondern eine Verschärfung der Krise der (finanz-) kapitalistischen Gesellschaft. Auch das Führen von Kriegen ist keine Wende. Die Wende findet sich vor allem im völligen Kollaps einer gesellschaftlichen Opposition, die der Gesamtheit der sozialen und politischen Probleme angemessen wäre.
Es haben sich im Laufe der letzten Jahre verschiedene Oppositionsbewegungen gebildet. Die Einschätzung, wer jeweils die soziale Basis gebildet hat und welches die Gründe für das Engagement vieler Menschen war, soll eines unserer Themen sein. Das andere Thema ist die darüber entbrannte Auseinandersetzung. Ab dem Herbst 2021 war der Vorwurf der „Querfront“ virulent gegenüber allen linken Versuchen, sich auf die eine oder andere Art positiv mit der Tatsache einer politischen Opposition auseinanderzusetzen. Vorgebracht wurde der Vorwurf von einer breiten Koalition einer grün- neoliberalen Regierung (ab Dezember 21) und einer lautstarken Fraktion innerhalb der Linkspartei und der linken Szene allgemein. Der Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg hat dazu eine Stellungnahme veröffentlicht, über die zu diskutieren wir euch einladen.
Schließlich wollen wir einen Aspekt in den Mittelpunkt stellen: Die staatliche Politik gegenüber Corona und als Partei eines Krieges hat vielfältige Konsequenzen auf die Arbeitsverhältnisse und -beziehungen sowie auf das Gefüge der staatlichen Sozialsysteme. Nicht umsonst wurde von der Politik seit Corona (!) von der Notwendigkeit einer „Kriegswirtschaft“ gesprochen. Damit wollen wir die Frage aufwerfen, in welchem Zusammenhang die staatliche „Politik“ und die „sozial- materiellen“ Bedingungen der lohnabhängigen Klasse stehen und wo Gelegenheiten für ein gemeinsames Agieren hätten liegen können oder heute noch liegen.
Einen Tag nach unserer Veranstaltung in Heimfeld wird der Jour Fixe seine Stellungnahme öffentlich diskutieren, und zwar am Mittwoch, 1.März 2023 um 18.30 Uhr im Curio- Haus, Rothenbaumchaussee 11 (im Hinterhaus)
Falls jemand Lust haben sollte, die Einladung weiterzuverteilen, freuen wir uns sehr!
Erleben wir einen Krieg um „politische Werte“ (Demokratie vs. Autokratie, wie die Regierung behauptet) oder den Beginn eines langen Krieges um eine „neue Weltordnung“ (wie immer die auch aussehen mag)?
Bis vor einigen Jahren war globaler „Freihandel“ das Mantra westlicher neoliberaler Politik. In diesen letzten Jahrzehnten fand er unter der unumstrittenen Vorherrschaft der USA statt (= unipolare Welt; ein Pol, an dem sich das Weltgeschehen ausrichtete). Der ökonomische Aufstieg Chinas führte ab einem gewissen Punkt zur Abschottung und einem Wirtschaftskrieg des Westens gegen China, wie sich z.B. an den Strafzöllen gegen chinesische Unternehmen und dem Verbot der Beteiligung „gegnerischer Unternehmen an der „Kritischen Infrastruktur“ zeigte. Der in der Ukraine eskalierte Konflikt zwischen dem „Westen“ und Russland sowie die Auseinandersetzungen mit China um Taiwan haben das Ende der letzten Phase des globalisierten Kapitalismus deutlich gemacht.
Hat die Unerbittlichkeit des Krieges um die Ukraine etwas mit dieser historischen Etappe zu tun?
Eine oft geäußerte Sichtweise ist, dass die beherrschende Macht USA im Niedergang begriffen ist und der Ukrainekrieg seitens des Westens im Kern den Auftakt des eskalierenden Machtkampfes mit China darstellt. Es werden unterschiedliche Einschätzungen vertreten, ob der Abstieg des Westens in den nächsten Jahrzehnten noch aufgehalten werden kann oder bereits irreversibel ist.
Das Schlagwort von einer „multipolaren Welt“ wird als Gegenentwurf zum US- dominierten Weltsystem gebraucht. Die kommende Weltordnung solle eher auf Kooperation souveräner Nationalstaaten statt auf Unterordnung unter eine Supermacht basieren. Dieses Bild geht davon aus, dass eine kapitalistische Weltwirtschaft erhalten bleibt, jedoch ohne die politische Dominanz einer Supermacht.
Eine Variante der „multipolaren Welt“ ist das Szenario einer bipolaren Welt durch erneute Blockbildung („Westen“ vs. Russland & China). Der Ökonom Michael Hudson sieht in diesen Blöcken allerdings nicht nur zwei konkurrierende Machtsphären, sondern zwei Systeme, die sich gegenüberstehen.
Eine vierte Diagnose des Zustandes der Welt ist schließlich die, dass der Kapitalismus weltweit, d.h., auch in China, in eine letzte Phase des Zusammenbruches der Finanzialisierung eingetreten ist. Der Philosoph Fabio Vighi bspw. sieht keinen Unterschied zwischen den Finanzeliten Chinas und der USA. Er ordnet den Krieg (wie auch die Pandemie) in den Prozess des Zusammenbruchs der Finanzmärkte ein. Darin manifestiert sich das Scheitern das kapitalistischen Systems in seiner aktuellen Form (s. z.B. Guillaume Paoli und seine Bezeichnung des Kapitalismus als eines „Untoten“). Analog zu N. Kleins Analyse und der Betitelung des aktuellen Kapitalismus als „Katastrophenkapitalismus“ sprechen Fabio Vighi, Ernst Wolff oder auch Kees van der Pijl davon, dass die uns in der Vergangenheit präsentierten wie auch zukünftige Krisen davon abhalten sollen, diese Realität zu erkennen. Eine Realität, die überdeutlich belegt, dass das kapitalistische System schon über seine Grenzen hinaus ist und es nur noch eine Frage der Zeit sein wird, bis es dann auch unübersehbar und unaufhaltbar zusammenbricht.
Wir wollen verschiedene Analysen der aktuellen Situation (Fabio Vighi / Ernst Wolff, Gegenstandpunkt und Michael Hudson) vergleichen und schauen, worauf diese Analysen eine Antwort geben und worauf nicht.
Den Vergleich der Analysen wollen wir anhand folgender Fragen vornehmen:
Welche Kriegsgründe werden in den Texten benannt?
(Womit) Erklärt die Analyse die Vehemenz, mit der der Ukraine-Krieg zur Sache der westlichen Regierungen wird?
Geht die Analyse auf die Hintergründe des Krieges ein?
Kann die Analyse – explizit oder implizit – erklären, warum die kleinen und mit-telständischen Unternehmen nun zur Gegenwehr bereit scheinen und warum die Großunternehmen eine andere Position einnehmen?
Bringt gerne weitere Fragen mit!
Diskutieren wollen wir anhand der so gewonnenen Erkenntnisse, wie wir die zukünftige Entwicklung einschätzen und über die Chancen, welche die aktuelle Situation, so düster sie auch sein mag, bietet.
Wer Lust hat, kann schonmal in folgende Texte reinlesen:
a) Fabio Vighi: Ein System auf der Intensivstation
1998 erschien das Büchlein „Utopistik“ des bekannten Historikers und Weltsystemtheoretikers Immanuel Wallerstein. In diesem Buch brachte er eine Ringvorlesung für Studenten in Kanada in Schriftform. Er versuchte darin, langfristige gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrhunderte und Jahrtausende zu erkennen. Das Buch mündet nicht in konkreten Utopien, wie der Titel vielleicht vermuten ließe. Stattdessen wollte er darstellen, dass eine bestimmte historische Epoche, nämlich die eines kapitalistischen Weltsystems, unwiderruflich an ihren eigenen Widersprüchen zu Ende gehe und sich damit Raum für etwas Neues öffne. Historisch sei der Übergang von einer hegemonialen Gesellschaftsformation zu einer anderen immer in einer chaotischen Zwischenetappe von etwa 50 Jahren erfolgt. Die jetzige (und endgültige) Krise habe um 1970 herum angefangen – wir sind also nahe dran!
Wie unsere Zukunft sein wird, konnte Wallerstein natürlich nicht vorhersagen, das liegt an uns allen. Die jetzige Situation wird sehr verschieden interpretiert; in der Darstellung der jetzigen Regierung stehen wir am Anfang eines irgendwie gerechten und „klimaneutralen“ Zeitalters – wir trennen uns von arbeitsintensiven und umweltverschmutzenden Industrien (d.h., lagern sie aus…), setzen eine Digitalisierung aller Lebensbereiche durch und verschaffen den Staatsbürgern per Bürgergeld ein Existenzminimum, auf dessen Basis Jede und Jeder sich für die Gemeinschaft einsetzen oder einfach seiner Selbstverwirklichung frönen kann. Das verspricht der „Green New Deal“, den EU- Kommissionspräsidentin von der Leyen ausgerufen hat oder der „Great Reset“, den der WEF- Gründer Klaus Schwab durch sein Buch populär aufbereitet verkündet hat. Bis es so weit ist, müssen wir natürlich noch Krieg führen gegen die Mächte der Finsternis, die sowohl Autokratien seien als auch an fossilen Brennstoffen festhielten (Russland und letztlich China). Viele Menschen müssen sterben und die Übrigen sollen frieren und hungern. Wie Gesundheitsminister Lauterbach sagte: Wir stehen am Anfang von noch mindestens zehn Jahren des Notstandes.
Die Durchsetzung einer solchen Agenda ist schwierig, deshalb braucht es psychologisch eine „Schockstrategie“, durch die die Widerstandskräfte gelähmt und überwunden werden.
In den Mittelpunkt unserer nächsten Veranstaltung am Dienstag, den 26.Juli (siehe: https://wordpress.com/post/laiens.club/1775 ) stellen wir das gleichnamige Buch von Naomi Klein (2007 auf Deutsch erschienen). In diesem skizziert sie die Schockstrategien, mit denen der Internationale Währungsfonds (IWF) als Instrument westlicher Interessen viele Länder in den 90er und 2000ern über den Zwang von Umschuldungs- und Strukturanpassungsprogramme zur Plünderung freigab – nachdem den dortigen Eliten über Jahre scheinbar billige Kredite zur Verfügung gestellt worden waren. „shock and awe“ (Schockieren und Ehrfurcht einflößen) gebot denn 1991 auch die offizielle us-amerikanische militärische Strategie gegenüber dem Irak.
Die Schockstrategie des IWF seit den 80er zielte auf die Vollendung neoliberaler Zustände – Privatisierungen öffentlicher Infrastruktur und Sozialsysteme und Beschränkung von demokratischen Rechten von Armen und Lohnabhängigen.
In vielerlei Hinsicht erinnert die Strategie der Regierungen seit zwei Jahren an diese Strategie – gesellschaftliche (Zusammen-)Brüche werden mit Untergangsszenarien und einem äußeren Feind begründet (sei es ein Virus, die Natur – oder „der Russe“).
Wo stehen wir allerdings im Vergleich zu der Zeit vor 30 Jahren?
Autoren wie Fabio Vighi beschreiben die „Schockstrategie“ als Versuch des globalen Kapitals, den Kollaps des Finanzkapitalismus für einen Übergang in so etwas wie eine „digital kontrollierte Oligarchie“ zu nutzen; er macht keinen Unterschied zwischen US- amerikanischem, deutschen oder chinesischen Eliten.
Michael Hudson, ein sehr renommierter Wirtschaftswissenschaftler aus den USA ( https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_Hudson ) dagegen sieht in der Konfrontation zwischen „Ost“ und „West“ keine Konkurrenz von gleichen Gesellschaftssystemen, sondern eine Blockbildung zwischen verschiedenen Modellen industrieller Entwicklung. Er hat Sympathien für das chinesische Modell, er sieht darin weniger einen sozialistischen Weg, aber einen, der auf die Weiterentwicklung der produktiven Möglichkeiten der Gesellschaft zielt, während er der westlichen Gesellschaft mit ihrer Herrschaft der Finanzoligarchie den Untergang prognostiziert -auch wenn sich dieser Prozess noch einige Jahre hinziehen könne.
Wie sehen und erleben wir die jetzige Situation? Fühlen wir uns getrieben von einem Plan der Mächtigen? Oder sehen wir eher einen Kollaps der gesellschaftlichen Verhältnisse? Wenn wir uns verdeutlichen, was das neoliberale Denken und Handeln über Jahrzehnte angerichtet hat, lässt sich vieles als Zusammenbruch und Kontrollverlust interpretieren: das Denken, alles ließe sich einfach kaufen, Geld kann man zur Not drucken und die Heinzelmännchen tanzen lassen, wie sich das durch weite Teile der Gesellschaft durchgefressen hat – Utopien nur noch als Vorstellung eines Grundeinkommens, aber auf der anderen Seite auch ein Kontrollverlust der betrieblichen und staatlichen Eliten. Gestörte Lieferketten und Sanktionen, deren Rückwirkungen auf die eigene materielle Produktionsbasis auch von den Managern gar nicht mehr begriffen werden.
Zum Verständnis der Gedanken von Michael Hudson hier ein längeres Interview mit ihm von Ende Mai 2022:
Vor genau hundert Jahren veröffentlichte Karl Kraus die bitterböse Collage „Die letzten Tage der Menschheit“. In einer schier unendlichen Aneinanderreihung von grotesken Szenen zieht die „liberale“ Wiener Gesellschaft im Ersten Weltkrieg an uns vorüber. Ähnlichkeiten mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation sind … reiner Zufall. Bertolt Brecht über Karl Kraus: „Als die Zeit Hand an sich legte, war er diese Hand“ … Wir laden in Zusammenarbeit mit dem Kulturverein „Alles Wird Schön“ dazu ein, zusammen und mit verteilten Rollen eine Auswahl seiner Szenen zu lesen!
Wer schonmal einen Blick auf das Werk werfen will, kann das über das Portal „Projekt Gutenberg“ tun:
Der Begriff »Zivilgesellschaft« klingt gut – nach dem Gegenteil von Militär, nach Eigeninitiative, Demokratie, Toleranz, Vielfältigkeit … Wie können wir uns erklären, dass hierzulande die lautesten Rufe nach Krieg heute im Namen eben dieser „Zivilgesellschaft“ erschallen? Unvergessen die Antwort der damaligen (1996) US- Staatssekretärin Madelaine Albright auf die Frage, ob der Tod von (nach UN- Angaben) mindestens 500 000 irakischen Kindern durch die Folgen der Sanktionen „es“ wert sei: „Ich denke, es ist eine sehr schwierige Entscheidung, aber der Preis – wir denken, der Preis ist es wert“. In Afghanistan sollte mit dem Tod von über 200 000 Afghanen die Zivilgesellschaft gestärkt werden … Heute geht es nach 1914-18 und 1939-45 wieder um unseren Schutz vor den barbarischen russischen Horden. Putin = Hitler, die russische Armee = SS, „russischer Vernichtungskrieg“ und dergleichen schrille und grenzenlose Rhetorik mehr.
Welcher Preis? Was ist „es“? Wer sind „wir“? Wer sind „die Anderen“?
– „es“ ist diffus: ein Zustand von „Moderne“, Demokratie, Freiheit, Fortschritt, Wissenschaft…
– „wir“ sind diejenigen, die diesem Pfad folgen
– „sie“ sind diejenigen, die (noch) nicht erkannt haben, dass dieser Fortschritt menschheitsgeschichtlich der einzig richtige ist.
Wähle, was dir wichtig ist: Waffen, Medizin, Wiederaufbau… Crowdfunding- Seite der ukrainischen Regierung
Eine Grundbedingung der Gesellschaft bleibt allerdings ausgespart: Die Eigentums- und die darauf aufbauenden ökonomischen Machtverhältnisse. Die an Schärfe zunehmenden gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre machen deutlich, dass es dabei nicht „nur“ um eine ungerechte Verteilung geht (was hilft mir bspw. die Reisefreiheit, wenn ich kein Geld habe?); es werden auch in den „Inseln des Wohlstandes“, in den Zentren der globalen Gesellschaft, politische Machtstrukturen ausgebaut und verschärft. Wurden in der sog. Migrationskrise die Außengrenzen der EU gegen Flüchtlinge weiter auf tödliche Art und Weise abgeschottet – 2015 nur kurz unterbrochen -, so haben die Regierungen in der sog. Corona- Krise die Mobilität innerhalb der EU einem politischen Regime unterworfen und an Bedingungen geknüpft, wie den Impfstatus. Der Soziologe Steffen Mau beschreibt in seinem Buch „Sortiermaschinen“ die Wandlung außenstaatlicher Grenzen in ein umfassendes Regime von flächendeckenden Mechanismen von Zugangskontrollen.
Ideologisch wird dieser Prozess von einem zunehmend identitären Freund- / Feind- Schema begleitet; auf der einen Seite entstehen politische Bewegungen, die sich mit nationalen oder religiösen Identitäten legitimieren, auf der anderen Seite steigert sich der ausschließende Charakter der (neo-)liberalen angeblich freiheitlichen Lebensweise:
Meinungsfreiheit! – aber nur für die, die unserer Meinung sind!
Freie Mobilität! – aber nur für die, die sich an unsere Regeln halten!
Demokratie! – aber nur für die, die ihrer würdig sind!
Menschenrechte! – aber nur für die, die wir als Menschen akzeptieren!
Kampnagel Hamburg lässt Künstlerinnen für Waffen werben…
Um nochmal auf den Krieg in der Ukraine zurückzukommen: Die ukrainische Medienwissenschaftlerin Olga Baysha hat kürzlich in einem Interview den Finger in die Wunde gelegt, als sie feststellte, dass die Eskalation des Konfliktes in dem Moment anfing, als die sozialen Konflikte dort 2013 / 14 nicht als solche artikuliert, sondern von den liberalen Mittelschichten als kulturelle gedeutet wurden. Eine realistische Einschätzung der sozialen Verfassung der Europäischen Union und der Auswirkungen der Integration der Ukraine in die Union gab es nicht, sondern sie wurde als Symbol für „Werte“ überhöht. Opponenten des EU- Beitritts wurden als „Moskowiter“ und kulturell rückständige Barbaren betrachtet. Daraus resultierte die bis heute bestimmende Allianz von liberal- westlichen Kräften und militanten Nationalisten.
Der wahre Zelensky: Vom prominenten Populisten zum unbeliebten Neoliberalen im Stile Pinochets
Von der anderen Seite betrachtet stimmt es ebenso, dass sich die Angst der von Privatisierungen und Ausverkauf des Landes an internationale Finanzinvestoren Bedrohten auch in erster Linie kulturell artikulierte, als Rückgriff auf eine sowjetische und / oder russische Identität. Der Prozess der neoliberalen Gesellschaftsumgestaltung führte in der Ukraine wie in vielen anderen Ländern in den Bürgerkrieg – und das ist er auch, parallel zu den geopolitischen Rivalitäten zwischen Großmächten.
„Fragen Sie ihren Nachbarn!“ (Karl Lauterbach als Lösungsvorschlag für das Problem eines verschärften Pflegenotstandes durch den Ausschluss ungeimpften Pflegepersonals)
In unserer Veranstaltung wollen wir den Bogen schlagen von der aktuell drängenden Eskalation des Krieges und seiner gesellschaftlichen Dynamik zur „Normalität“ der neoliberalen „Zivilgesellschaft“.
Um auf eine bessere Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit zu kommen, versuchen wir, die Fallstricke zu erkennen, die darüber gespannt werden, dass jedes Herrschaftssystem sehr findig ist, Elemente oppositioneller Bewegungen in sein Handeln aufzunehmen und einzubeziehen.
Die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner beschreiben in ihrem 2021 erschienene Büchlein „Community – Kapitalismus“ den Zerfall der Gesellschaft in identitäre „Communities“: Er ist sowohl eine von oben forcierte Folge der Auflösung traditioneller sozialer Bezüge, als auch eine Umformung einer sich von „unten“ entwickelnde Suche nach selbstbestimmten Gesellschaftsformen. Ihre Betrachtungen richten sich vor allem auf das Feld der „sozialen Dienstleistungen“, d.h. der Reproduktion der Menschen als Einzelne oder als Gruppe / Klasse.
Historisch entwickelten sich ab Ende der 60er Jahre Bewegungen sowohl gegen die bürokratischen Zwangsformen des Sozialstaates (wie etwa geschlossene Heime, ein autoritäres Schulsystem etc.) als auch gegen die alten Formen der Familie. Innerhalb dieser Bewegung gab es eine Tendenz, es „besser“ machen zu wollen, neue Formen des Gesundheitsschutzes, der Bildung etc. zu entwickeln und diese Organisationsformen als Keimzellen eines Widerstandes zu nutzen.
Ab den 80er Jahren begann der Staat, sich langsam aus vielen Bereichen des Sozialstaates zurückzuziehen und / oder sie in staatlicher Trägerschaft marktwirtschaftlich zu organisieren. Nun fing die Debatte um den „Neoliberalismus“ als neue Phase des Kapitalismus an. Gemeinhin wurde wahrgenommen, dass diese Phase davon gekennzeichnet sei, dass alle Lebensbereiche „vermarktwirtschaftlicht“ würden und sich jede Tätigkeit in bezahlte Lohnarbeit verwandle. Van Dyk und Taubner kritisieren diese Sichtweise: Der Kapitalismus habe schon immer davon gelebt, dass gesellschaftliche Arbeit unbezahlt geleistet wurde: Familiäre und naturwüchsige soziale Bindungen haben bis in die 1950er Jahre das (Über-)leben der Lohnabhängigen Schichten gesichert. Ab da bis in die 70er Jahre wurden viele der Reproduktionstätigkeiten wie Pflege etc. über staatliche Institutionen als Lohnarbeit organisiert. Die u.a. aus steigender Frauenerwerbstätigkeit folgende Auflösung familiärer Bindungen stellte das Kapital vor das Problem, dass eine soziale Arbeit keinen unmittelbaren Mehrwert produziert, sondern über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aus dem Lohn bezahlt werden. Seit den 80er Jahren wird die staatliche Grundversorgung heruntergefahren, gekürzt, privatisiert und geschlossen. Um die entstehenden Lücken zu schließen, fördert der Staat seitdem das ehrenamtliche (also unbezahlte) Engagement. Neben finanziellen Ersparnissen bietet das Ehrenamt dem Kapital auch eine Legitimationsbasis – zeigt es so, dass es nicht nur den schnöden Mammon anbetet, sondern auch das Miteinander in der Gemeinschaft („community“) fördert. An die Stelle historisch entwickelter und quasi naturwüchsiger Verpflichtungen treten „wertebasierte“, also identitäre Gemeinschaften, die sich um das Gemeinwohl kümmern. Konservative und Rechte reagieren auf diesen Rückzug des Staates mit dem Bezug auf vermeintlich tradierte familiäre und nationale Identitäten, während „Fortschrittliche“ und Linke ihre Identität aus bewusst selbst gewählten und geteilten Werten herleiten. Alle Gruppenidentitäten grenzen sich allerdings von anderen ab – auch eine linke Selbstorganisation wird ihre Hilfe nur denjenigen angedeihen lassen, die ihre definierten moralischen Ansichten teilt.
Nur ein Staat bietet van Dyk und Taubners Meinung nach grundsätzlich eine tendenziell universale Versorgung und Hilfe an; zumindest dem Anspruch nach ist die Versorgung durch den Sozialstaat nicht daran gebunden, welche politische Überzeugung ich habe oder wie ungenießbar ich persönlich bin. Am Beispiel einiger Sektoren zeigt sie das Dilemma auf, dass gutgemeintes „bürgerschaftliches“ Engagement die bewusst gerissenen Lücken des Sozialstaates einfach nur füllt – und das auch noch unvollständig, da gerade die Ärmsten und „Schwierigsten“ aus dem Raster fallen. Zugleich ist dieses Engagement in staatliche Strukturen und Hierarchien eingebunden. Eine Kritik an dieser Einbindung finde auch in linken Kreisen kaum noch statt, die stattdessen einen identitären Aspekt und den der „Selbstorganisation“ überhöhen.
Wir wollen an Hand von Beispielen aus dem Buch die Mechanismen skizzieren, mit denen eine ganze Bandbreite von (schlecht) entlohnter bis zu nicht entlohnter Arbeit durchgesetzt worden ist und Fragen diskutieren:
Welche Probleme ergeben sich aus der Mobilisierung freiwilliger und gemeinschaftlicher Arbeit?
Welches sind die arbeitspolitischen Folgen der Informalisierung?
Führt informelle und freiwillige Arbeit tatsächlich zu mehr Autonomie?
Wie stabilisieren diese Arbeitsformen gesellschaftliche Ungleichheit?
Wie lassen sich ehrenamtliche Strukturen politisch instrumentalisieren?
Vor einiger Zeit fiel uns das 2021 erschienene Büchlein „Community – Kapitalismus“ von Silke van Dyk und Tine Haubner in die Hände. Darin beschreiben die beiden Soziologinnen die zwiespältige Rolle, die das „ehrenamtliches Engagement“ in der – heute Neoliberalismus genannten – Phase des Kapitalismus spielt. Sie wenden sich gegen die weit verbreiteten Ansicht, dass der Neoliberalismus von der Tendenz gekennzeichnet sei, dass alle Lebensbereiche „vermarktwirtschaftlicht“ werden und sich jede Tätigkeit in bezahlte Lohnarbeit verwandle. Der Kapitalismus habe immer davon gelebt, dass gesellschaftliche Arbeit unbezahlt geleistet worden ist: Familiäre und naturwüchsige soziale Bindungen haben bis in die 1950er Jahre das (Über-)leben der lohnabhängigen Schichten gesichert. Ab da bis in die 70er Jahre wurden viele der Reproduktionstätigkeiten wie Pflege etc. über staatliche Institutionen als Lohnarbeit organisiert. Die u.a. aus steigender Frauenerwerbstätigkeit folgende Auflösung familiärer Bindungen stellte das Kapital vor das Problem, dass eine soziale Arbeit keinen unmittelbaren Mehrwert produziert, sondern über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aus dem Lohn bezahlt werden. Seit den 80er Jahren wird die staatliche Grundversorgung heruntergefahren, gekürzt, privatisiert und geschlossen. Um die entstehenden Lücken zu schließen, fördert der Staat seitdem das ehrenamtliche (also unbezahlte) Engagement. Neben finanziellen Ersparnissen bietet das Ehrenamt dem Kapital auch eine Legitimationsbasis – zeigt es so, dass es nicht nur den schnöden Mammon anbetet, sondern auch das Miteinander in der Gemeinschaft („community“) fördert. An die Stelle historisch entwickelter und quasi naturwüchsiger Verpflichtungen treten „wertebasierte“, also identitäre Gemeinschaften, die sich um das Gemeinwohl kümmern. Konservative und Rechte reagieren auf diesen Rückzug des Staates mit dem Bezug auf vermeintlich tradierte familiäre und nationale Identitäten, während „Fortschrittliche“ und Linke ihre Identität aus bewusst selbst gewählten und geteilten Werten herleiten. Die soziale Stellung spielt heute dagegen bei den politischen Strömungen keine Rolle mehr. Alle Gruppenidentitäten grenzen sich allerdings von anderen ab – auch eine linke Selbstorganisation wird ihre Hilfe nur denjenigen angedeihen lassen, die ihre definierten moralischen Ansichten teilt. Nur der Staat bietet ihrer (der Autorinnen) Meinung nach grundsätzlich eine tendenziell universale Versorgung und Hilfe an; zumindest dem Anspruch nach ist die Versorgung durch den Sozialstaat nicht daran gebunden, welche politische Überzeugung ich habe oder wie ungenießbar ich persönlich bin.
Über die sozialpolitischen Konsequenzen dieser Entwicklung werden wir in nächster Zeit nochmal zurückkommen; hier geht es jetzt um die Frage, warum in den politischen Debatten der letzten Jahren auf einmal wieder die „Wertegemeinschaft“ eine Renaissance erlebt hat: In den Auseinandersetzungen nach 2015 um die Einwanderung ging es kaum um das, was Menschen real tun, sondern um eine grundsätzliche Positionierung für oder wider Einwanderung überhaupt. In der Auseinandersetzung um die staatliche Coronapolitik wurde eine moralisierende Positionierung betrieben, die zwischen „Egoisten“ und „Solidarischen“ unterschied. Heute, da es um (einen bestimmten) Krieg geht, wird ebenso eine Zuordnung zu „Menschlichkeit“, „Demokratie“, „Frieden“ (=Sieg durch Waffen) vs. „Putin“ verlangt.
Moralische Werte als Kompass des Handelns sind unentbehrlich, sicher. Sind sie aber Produkt gemeinschaftlichen Handelns und damit auch historischen Veränderungen unterworfen oder sind sie die Basis von „Wertegemeinschaften“, die sich von anderen Gemeinschaften abgrenzen? Können sie dann noch universale Werte sein, da die „anderen“ ja nicht zur Gemeinschaft dazugehören?
Wertegemeinschaft II – Mossul 2017
Es sei an dieser Stelle auf einen kurzen Essay des israelischen Autors und Wissenschaftlers Ilan Pappe aus The Palestine Chronicle verwiesen: „Navigation durch unsere Menschlichkeit: Ilan Pappe über die vier Lehren aus der Ukraine“. Übersetzung auf den Nachdenkseiten: https://www.nachdenkseiten.de/?p=82512
Über den Zusammenhang von Krieg (in der Ukraine) und Notstandspolitik im Inneren haben wir uns Fragen gestellt und versucht, ein paar Gedanken zu formulieren:
Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson stand 1917 vor einem Problem: Er war gerade erst mit dem Versprechen wiedergewählt worden, die USA aus dem Weltkrieg herauszuhalten. Nun hatte jedoch die us-amerikanische Industrie durch den Krieg in Europa einen ungeheuren Boom erlebt. Dummerweise schien sich der Krieg jedoch zu erschöpfen: Im Februar 1917 brach die zaristische Regierung in Russland unter der Losung „Brot und Frieden“ zusammen, zehntausende französische Soldaten meuterten, in Deutschland streikten tausende Arbeiterinnen u.a.m. Der Krieg sollte aber unbedingt weitergehen – was also tun??
Wilson schuf kurzerhand Fakten und erklärte dem Deutschen Reich den Krieg. Um im Nachhinein die Gesellschaft auf seinen Kurs einzuschwören, gründete er das „Committee on Public Information“ (CPI). Diese baute im ganzen Land einen Apparat auf, in dem Prominente (z.B. Schauspieler) und lokale große und kleine Kriegsprofiteure ehrenhalber die Massen auf Krieg einstimmen sollten. Neben aktiver Werbung für den Krieg, war das Ziel der Aktivitäten des CPI vor allem der „enemy within“, der Feind im Inneren: Kriegsgegner, Schwarze, die Arbeiterbewegung sowie deutsche Einwanderer, die zu diesem Zeitpunkt die größte Gruppe innerhalb der (politisch sehr aktiven und gegen den Krieg eingestellten) Arbeiterschaft stellten. Staatlich legitimiert begann eine Hatz auf vermeintliche deutsche Spione und allgemein „Feinde“. Das CPI koordinierte entsprechende Aktionen und stellte das notwendige Propagandamaterial (z.B. fertig formulierte Reden) zur Verfügung. Hier tauchte dann zum ersten Mal ein junger Mann auf, der in den folgenden Jahrzehnten zum Pionier der Propaganda aufsteigen sollte: Edward Bernays (1891 bis 1995).
Während des Krieges hatte sich in den amerikanischen Fabriken die Massenproduktion als Herstellungsmethode von Kriegsgütern (z.B. Munition) durchgesetzt. Diese Fertigungsweise wurde nach dem Krieg auf zivile Güter übertragen. Für die nun massenhaft produzierten Dinge waren jedoch auch Konsumenten notwendig. So widmete sich Bernays nach Friedensschluss diesem „Problem“ und brachte seine Fertigkeiten in die Werbung ein. Er lernte viel von seinem Onkel, dem Psychoanalytiker Sigmund Freud, und entwickelte Strategien, die zu verkaufenden Waren mit einer spezifischen Mentalität zu verknüpfen. Er wollte nicht konkrete Bedürfnisse erfüllen helfen, sondern die Waren als Attribute der Selbstdarstellung inszenieren. Ein bekanntes Beispiel ist seine Kampagne für die American Tobacco Company im Jahre 1929. Diese wollte Frauen, denen bis Ende der 20er Jahre das Rauchen in der Öffentlichkeit verboten war, als neue Zielgruppe erreichen. Bernays überredete dazu zunächst die Modeindustrie, den spezifischen Grünton der Lucky-Strike-Packungen zur Farbe der Saison zu machen. Dann bezahlte er eine Gruppe von Frauen, die sich bei der traditionellen Osterparade als Suffragetten (Frauenrechtlerinnen) verkleideten. Als beauftragte Journalisten sie fotografierten, zündeten sie Zigaretten an und proklamierten diese als „torches of freedom“ (Fackeln der Freiheit) – mit großem Erfolg. Rauchen wurde zum Symbol für die emanzipierte, unabhängige, moderne Frau. Edward Bernays wurde in den darauf folgenden Jahren zum „Vater“ der Public Relation – nicht nur, weil er diesen Begriff erfand, sondern weil es ihm in vielen Situationen und zu zahlreichen Anlässen gelang, zuverlässig die Reaktion in der jeweiligen Zielgruppe seiner Werbestrategie hervorzurufen, die er hervorrufen wollte.
Heute sind die Methoden der „public relation“ wichtiger denn je und nicht mehr nur in der Werbung verbreitet, sondern zunehmend bedient sich ihrer auch die Politik, die mittlerweile ganz selbstverständlich auf große PR-Agenturen zurückgreift, wenn Wahlen anstehen. Es geht eben nicht mehr darum, die Wähler mit Argumenten zu überzeugen, sondern um „Meinungsmache“ ganz im Sinne von Bernayes.
Wir zeigen eine französische Fernsehdokumentation von 2017, in der Bernays‘ Werdegang nachgezeichnet und die Wirkungsweise von Public Relations deutlich gemacht wird.