Diskussionsveranstaltung
Dienstag, 25.April 2023, 19.30 Uhr
Mieterpavillon, Friedrich-Naumann-Straße 7

Zu Zeiten Kaiser Wilhelms war der typische deutsche Militarist ein schneidiger Offizier, trug eine Pickelhaube und hatte seinen Schnurrbart akkurat aufgezwirbelt. Heute hat der der typische deutsche Militarist den Wehrdienst verweigert, trägt lange Haare oder einen Irokesenschnitt. Der eine ließ ins „Feld der Ehre“ ziehen, während der andere für „Werte“ sterben lässt.

Man kann sich über einzelne Figuren aufregen, aber die entscheidende Frage reicht weiter: Warum hat der heutige olivgrüne Militarist den Rückhalt der staatstragenden Mittelschicht? Warum reicht diese Unterstützung bis weit ins linke Lager? Eine Antwort liegt u.E. nach darin, dass diese Mittelschicht an eine sog. Zivilgesellschaft glaubt, die der OlivGrüne gegen ruchlose staatsgläubige Diktatoren zu verteidigen behauptet.

Aber was bedeutet der Begriff „Zivilgesellschaft“ eigentlich? Wo kommt er her? Was bedeutet er in Zeiten des Finanzkapitalismus, wie hängt er damit zusammen? Ist es ein Zufall, dass der Begriff im Deutschen zusammen mit der Debatte um den Abbau des Sozialstaates populär wurde? Welche Rolle kommt den privaten Wohltätigkeitsstiftungen zu, die die zivilgesellschaftlichen Initiativen fördern?
Diese Fragen wollen wir in unserer Diskussionsveranstaltung erörtern.

Dies ist die dritte Veranstaltung, in der wir uns mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der staatlichen Politik angesichts der seit drei Jahren offen virulenten Krise beschäftigen. Wir knüpfen an verschiedene Veranstaltungen an, die wir vor längerer Zeit gemacht haben, so im Mai 2022: „Der Krieg ist die Fortsetzung der Zivilgesellschaft mit anderen Mitteln“…: Das Dilemma des „Community- Kapitalismus“
Damals haben wir das Buch »Community- Kapitalismus« vorgestellt. In dem beschreiben zwei (links) Soziologinnen die zunehmende Bedeutung der identitären Community innerhalb der sozialen und pflegerischen Arbeit. Der Staat zieht sich aus vielen Bereichen seiner Verantwortung zurück und fördert als Ersatz Ehrenamt und identitätsgetriebenes Engagement – schlecht bis gar nicht bezahlt und mit all den Widersprüchen beladen, die eine ungleiche Gesellschaft so mit sich bringt. Von der beschworenen Community haben wir den Bogen zur aktuellen Welle der Kriegsbegeisterung dieser bürgerlicher Schichten gezogen. Diesen Bogen behalten wir jetzt bei, setzen den Schwerpunkt aber mehr auf die Rolle der Stiftungen und ihren immer breiteren politischen Einfluss.
Im April 2018 haben wir das Buch „Ethnizität ohne Gruppen“ von R.Brubaker diskutiert – dieses knüpft an die Identitätsfalle an, in der sich die Linke in den letzten Jahren verfangen hat. Er fragte sich anhand bspw. des Konfliktes im damaligen Jugoslawien, wie (zerstörerische) gesellschaftliche Prozesse in Gang gesetzt werden, in denen sich identitäre „Gruppen“ um individuelle Merkmale herum bilden.
Solche Prozesse sind auch in der Ukraine seit Jahren im Gang; wir verweisen in diesem Zusammenhang auf den Beitrag der ukrainischen Medienwissenschaftlerin Olga Baysha, die in einem Interview feststellte, dass die Eskalation des Konfliktes in dem Moment anfing, als die sozialen Konflikte dort 2013 / 14 nicht als solche artikuliert, sondern von den liberalen Mittelschichten als kulturelle gedeutet wurden. Eine realistische Einschätzung der sozialen Verfassung der Europäischen Union und der Auswirkungen der Integration der Ukraine in die Union gab es nicht, sondern sie wurde als Symbol für „Werte“ überhöht. Opponenten des EU- Beitritts wurden als „Moskowiter“ und kulturell rückständige Barbaren betrachtet. Daraus resultierte die bis heute bestimmende Allianz von liberal- westlichen Kräften und militanten Nationalisten.
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Hier liegt auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Die unter den Zaren gegründete und heute erbittert umkämpfte Siedlung Bachmut wurde 1924 nach einem bekannten Revolutionär mit dem Rufnamen „Artjom“ in Artjomowsk umbenannt. Der vermeintlich „ukrainische“ Namen, den Annalena Baerbock als Symbol für soldatischen Heldenmut so gerne im Mund führt, ist der zaristische, während der vermeintlich „russische“ eigentlich der sowjetische ist…Der ukrainisch- sowjetische war Artemiwsk…